Internationales

jenseits der Grenzen

Ein halbes Jahr in Indien

Autorin: Adriana Dyndor, Titelfoto: Stefan Zeuch

Im März 2012 durfte ich dem deutschen Winter entkommen und landete zusammen mit meinem Praxisbetreuer aus Aschaffenburg direkt bei 38 Grad in der südindischen Sieben-Millionen-Metropole Hyderabad. Während wir am Flughafen auf das Taxi warteten, reichte mir ein Inder die Hand. Fest davon überzeugt, dass er unser Fahrer sei, begrüßte ich den Mann. Mein Betreuer schaute mich neugierig an und fragte woher ich diesen Mann kenne? Der Fremde sah wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben eine weiße Frau und wollte unbedingt ihre Hand schütteln. Es war ein seltsames Gefühl - Dutzende von Menschen an diesem hektischen Flughafen schauten mich an. Ich kam mir vor wie ein Alien.

Zahlreiche ausländische Firmen, von Start-Ups bis hin zu den Wirtschaftsriesen, haben nicht nur Niederlassungen in den indischen Metropolen wie Neu-Delhi, Mumbai, Bangalore, Pune und Hyderabad, sondern auch in anderen Städten im ganzen Land. Die niedrigen Kosten, die Verfügbarkeit von qualifizierten Arbeitskräften, auch die optimale Nutzung der Arbeitszeit aufgrund der Zeitverschiebung sind attraktive Faktoren für die Outsourcing-Projekte vieler Unternehmen.

Doch welche Hindernisse und Herausforderungen stecken hinter einer Geschäftsverlagerung ins Ausland? Als Augenzeuge berichte ich hier über die Erfahrungen und die Eindrücke, die ich während meines Praxissemesters bei einem deutschen IT-Consulting-Unternehmen in Indien machen durfte.

Als Botschafter der Beuth Hochschule absolvierte Stefan Zeuch, ein Bachelorand des Studiengangs Druck- und Medientechnik, sein Praxissemester ebenfalls in Indien. Er nahm von Februar bis August 2013 am Cross-Cultural Internship des Springer SBM Wissenschaftsverlages teil.

Dhobi Ghat Wäscherei in Mumbai
Foto: Adriana Dyndor

Vorbereitungen

Hyderabad – Die Entscheidung für einen Auslandsaufenthalt in Indien hatte ich schon zum Anfang meines Bachelorstudiums getroffen. Der Bewerbungsprozess direkt bei den indischen Unternehmen war um vieles komplizierter als gedacht. Nach meinen zahlreichen E-Mails kam lediglich eine Antwort von einem kleinen Webdesign-Start-Up in Bangalore zurück. Das Vorstellungsgespräch über Skype verlief etwas seltsam. Das Angebot von der Firma war leider nicht zufriedenstellend.

Durch einen Zufall erfuhr ich von einer Kommilitonin, die vor Kurzem ihr Praxissemester in Hyderabad absolviert hat. Sie gab mir die Kontaktdaten von dem Unternehmen mit Hauptsitz in Aschaffenburg, und innerhalb eines Monats hatte ich schon die Zusage.

Die Vorbereitungen waren sehr unkompliziert, meine Firma übernahm die Kosten für den Flug und das Visum. Zusätzlich wurde eine Vergütung von 300 Euro im Monat für das 24-wöchige Praktikum vereinbart.

Pune – Zweimal im Jahr werden niederländische und deutsche Hochschulabsolventen als Praktikanten entsendet, um für ein halbes Jahr bei dem Tochterunternehmen von Springer, Crest Premedia Solutions, zu arbeiten. In Heidelberg hat Stefan an einem zweitägigen Vorbereitungsseminar teilgenommen. Die Praktikanten wurden mit Workflows vertraut gemacht und für kulturelle Unterschiede sensibilisiert: High-Context und Low-Context Kulturen. Von Springer gab es ein üppiges Rund-um-sorglos-Paket: Flugkostenübernahme, Impfungen, Krankenversicherung, drei Firmentrips. Darüber hinaus gab es ein Gehalt.


Praktikum

Hyderabad – Eine Woche war bereits vergangen, aber die neugierigen Blicke der Einheimischen ließen nicht nach. Doch ich konnte mich gut an meinem neuen Arbeitsplatz einleben und habe mich schnell wohlgefühlt. Dank dem herzlichen Empfang meiner Arbeitskollegen und der freundlichen Betreuung meines Vorgesetzten aus Deutschland, war die Ankunft in Indien sorglos. Bereits in der ersten Praxiswoche hatte ich ein eigenes Projekt, und zwei Wochen später sogar ein fünfköpfiges Team unter meiner Verantwortung. Durch die zurückhaltende Art der Inder war der persönliche Kontakt zu meinen Kollegen am Anfang nicht sehr einfach. Doch schon nach ein paar Wochen hatte ich viele neue Freunde gefunden.

Pune – Alle Praktikanten hatten einen Manager als Mentor. Darüber hinaus hatten sie eine Koordinatorin. Bei wöchentlichen Treffen wurden organisatorische wie allgemeine Belange besprochen. Innerhalb der ersten beiden Wochen durchlief Stefan die für ihn relevanten Abteilungen. Dann arbeitete er an den Projekten. Stefan konnte sich bei Fragen und Unklarheiten jederzeit an seinen Manager wenden. Bei Crest wurde von Montag bis Samstag gearbeitet. In dieser Zeit wurde deutlich, dass in diesem Unternehmen ein engeres Verhältnis zwischen den Kollegen besteht. Einige Teams unternahmen auch Sonntagsausflüge zusammen.


Wohnen

Hyderabad – Meine Firma stellte mir, unentgeltlich, eine Vier-Zimmer-Wohnung zur Verfügung. Die separate Wohnung befand sich in dem Haus meines Indischen Vorgesetzten in Secunderabad. Der Bezirk gilt als beinahe eigenständige Kleinstadt, und liegt eine Stunde Autofahrt vom Büro entfernt. Zu der gemütlichen Bleibe gehörte auch eine voll ausgestattete Küche, zwei Badezimmer und sogar eine Terrasse.

Pune – Gewohnt hat Stefan in der modernen Township „Magarpatta City“. Im wahrsten Sinne des Wortes eine Stadt. Es gab alles: eine Mall, zwei Fitnessstudios, kleine Shops, einen Park, eine Uni.

Dort befand sich auch der IT-Park mit modernsten Büros, die in 10 Minuten zu Fuß zu erreichen waren.


Beziehungen zwischen Arbeitskollegen

Hyderabad – Die Hierarchie am Arbeitsplatz in Indien ist durch die Traditionen, Kultur und Geschichte des Landes stark geprägt. Unterordnung und größter Respekt zu den Vorgesetzten grenzen oft an Angst.

Diese Art der Beziehung zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber ist mit Sicherheit kein Standard für Indien, jedoch ist sie landesweit in allen Branchen verbreitet.

Pune – Auch Stefan schien es, als würde eine recht große Machtdistanz zwischen den Hierarchieebenen zu herrschen. Schlüsselwort: „Obrigkeitsdenken“. Das spiegelte sich in den Ansprachen wieder, denn die Vorgesetzten werden ausschließlich mit Sir oder Sir Ji betitelt.

Oft gab es etwas befremdliche Situationen. Wenn man zum Beispiel etwas verschüttet hatte, wurden von dem Teamleiter dafür die Reinigungskräfte benachrichtigt. Jeder hat seine Rolle.

Traditionelle Tänzerin aus Cochi.
Foto: Stefan Zeuch

Freizeit

Hyderabad – Ich bekam zehn Urlaubstage und durfte auch meine angesammelten Überstunden nutzen, um mir etwas mehr Zeit zum Reisen zu nehmen. Als Ziel habe ich mir die südlichste Spitze Keralas, Rishikesh und Haridwar am Fuße des Himalaya, die Ostküste am Golf von Bengalen und Nepal ausgesucht.

Außerdem hatte ich die Gelegenheit Kurzausflüge nach Mumbai und Neu-Delhi zu unternehmen. An den Wochenenden ging ich oft ins Kino, shoppen, in die zahlreichen Parks oder in einen der vielen Hotelpools zum schwimmen. Abends traf ich ab und zu meine indischen Kollegen im Pub oder im Restaurant.

Besonders habe ich mich über die vielen Einladungen zum Abendessen von meinem Chef gefreut. Seine ganze Familie hat für mich immer köstlich gekocht.

Pune – Zu den Sonntagsausflügen wurden auch die Praktikanten eingeladen, und die Erfahrungen waren recht spannend. Die Indischen Kollegen hatten für die ganze Abteilung einen Bus gemietet. Treffpunkt: morgens um vier Uhr im Büro (der zweite Organisator ließ knapp eine Stunde auf sich warten). Auf der Fahrt, so gegen sechs Uhr, wurde die Musik bis zum Anschlag aufgedreht und getanzt.

Stefan hatte ebenfalls die Möglichkeit während seines Urlaubs das Land zu entdecken: Mahabaleshwar, Goa, Kerala, Dapoli Beach, Murud Janjira. An den Wochenenden hat er Kurztrips unternommen, und dabei unzählige Tempel und Höhlen besichtigt.


Verkehr

Hyderabad – Der chaotische indische Verkehr ist wahrscheinlich das beeindrucktenste Erlebnis, welches ich aus diesem Land mitgenommen habe: fünf-köpfige Familien mit Einkaufstüten auf einem Motorrad - natürlich alle ohne Helm - Frauen mit offenen Highheels auf Motorrädern, Ampeln, die niemand beachtet, Richtungswechsel auf der Spur je nach Belieben, mitten im Berufsverkehr schlafende Menschen direkt auf der Autostraße, Transport von großen und oft auch schweren Möbelstücken auf dem Kopf des Motorradfahrers. Die Liste ist unendlich lang.

Erstaunlich: trotz aller Statistiken habe ich keinen einzigen Unfall in diesem halben Jahr erlebt oder gesehen.

Pune – Auch Stefan fand den indischen Verkehr sehr gewöhnungsbedürftig – aber auch abenteuerlich. Die Breite einer Fahrspur ist dort sehr variabel. Lichthupe und Hupe werden als „hier bin ich“ benutzt. In Taxis gibt es Gurte zum Anschnallen oft nur für den Beifahrer.


Fazit

Die Erfahrungen, die Stefan und ich während der Praxisphase in Indien sammeln durften, waren in jeder Hinsicht bereichernd und inspirierend. Der Auslandsaufenthalt gab uns viele Einblicke in eine vollkommen andere Kultur. Wir konnten neue Freundschaften schließen, und uns nicht nur beruflich, sondern auch persönlich weiterentwickeln.