Kultur und Technik

Mit dem Teufel per du

Sein Leben liest sich wie ein Abenteuerroman – gespickt von Begegnungen mit den Mächtigen und Bösen dieser Welt, es ist das Leben eines Grenzgängers.

Autor: Mario Holzner

Immer wieder fällt mir der ältere Herr im Verlagsgebäude auf. Manchmal in der Kantine, immer wieder im Foyer, aber am häufigsten dann, wenn er die Tür hinter sich schließt und das Büro meines Chefredakteurs verlässt. Doch wer ist dieser Mann, der scheinbar keine Aufgabe im Gebäude innehat? Antwort liefert mir eine Kollegin. Der Mann heißt Perry Kretz und war als ehemaliger Fotoreporter für den stern in vielen Kriegs- und Krisengebieten unterwegs. Es heißt, dass er einer der wenigen Menschen ist, die tatsächlich noch etwas zu erzählen haben. Meine Neugier ist geweckt.


Foto: Courtesy of Sandra Schink

Seine Gesprächseinstiege sind legendär: „Listen, Gaddafi!“ oder auch einfach „Listen, Mister President!“ Dieses unglaubliche Selbstbewusstsein, das ihm erlaubte, selbst gefürchteten Machthabern so furchtlos gegenüberzutreten, ist sein Markenzeichen. Einem Streit ging er früher selten aus dem Weg, aber für ein gutes Bild ließ er sich auch schon mal mit dem Feind ein. „Persönliche Gefühle kann man sich in diesem Job nicht leisten“, ist einer seiner Grundsätze. Als er 1989 Jean-Claude Duvalier – damals Diktator Haitis – besuchte, trat er ihm als „Freund“ gegenüber. Was er tatsächlich empfand, hat er geschickt verborgen. Wenn Kretz aus seinem Leben erzählt, betont er stets, dass er immer auf Augenhöhe verhandelt und diskutiert hat. Egal, ob sein Gegenüber dabei der libysche Staatschef, Nicaraguas Diktator oder gar ein Mafia-Boss gewesen ist.

Es ist Dienstag 12:33 Uhr, wir sind zum Mittagessen verabredet. Adrett gekleidet, weißes Haar, leicht gebräunte Haut und von Lebensfalten gezeichnet, wartet er ungeduldig auf mein Kommen. Wir setzen uns an einen der wenigen Zweiertische im hinteren Bereich der Kantine. Es ist laut. Rechts von uns diskutieren andere Kantinenbesucher angeregt, links von uns klopft der Regen an die Fensterscheibe. Doch ich lasse mich nicht ablenken. Mir gegenüber sitzt ein Mann, der nur mit persönlichen Erinnerungen ganze Geschichtsbücher füllen könnte, ein anerkannter Kriegsreporter, jemand der mehrmals mit dem World Press Photo Award für seine brisanten Dokumentationen ausgezeichnet wurde.

Die Lebensgeschichte des Perry Kretz ist die eines besonders neugierigen Menschen. Früh stand er auf eigenen Beinen. Geboren 1933 in Köln, tummelte er sich bereits als Zehnjähriger auf den Schwarzmärkten der Stadt und übte sich in lukrativen Geschäften. Beinahe gelang ihm als Teenager der Durchbruch zum Boxer, aber mit 17 Jahren ließ er das zertrümmerte Nachkriegsdeutschland zurück und wanderte zu seinem Onkel in die USA aus. „Mir fehlte das Prickeln der Gefahr. (...) Ich wollte die Welt kennenlernen.“ Dieses Prickeln lernte er schnell kennen:

Foto: Courtesy of Perry Kretz

Durch seine damalige Freundin knüpfte er Kontakte zur Mafia. Kretz arbeitete für die Mafiosi als „Number Runner“, eine Art Wettscheinbote, und finanzierte sich anfangs seinen Lebensunterhalt mit fragwürdigen Methoden. Drei Jahre später wurde er in die US-Armee eingezogen und machte dadurch seine ersten Kriegserfahrungen in Korea. Ob dieses Erlebnis seinen beruflichen Werdegang beeinflusst hat, verriet er nie. Feststeht jedoch, dass er – wieder zurück in New York – ein Journalismus-Studium begonnen hat und nach dem Erwerb der amerikanischen Staatsbürgerschaft seine Laufbahn als Fotoreporter begann. Anfangs für die New York Post, die englische Bildagentur Keystone und die Spurensicherung der Polizei tätig, war es schließlich ein Hamburg-Besuch im Jahre 1969, der drei Jahrzehnte aufrüttelnde Bilddokumentationen über Kriege, Revolutionen und Bandenkämpfe rund um die Welt nach sich zog.


hotspot
„Mir war stets bewusst, dass ich kein Sozialarbeiter war. Ich bin Journalist. Ich habe eine andere Aufgabe.“ Perry Kretz

Das Mittagessen steht vor mir und eigentlich ist es hier zu laut für ein angenehmes Gespräch, denke ich mir. Doch als Kretz anfängt zu erzählen, zog es mich sofort in seinen Bann. Gerade hat er noch mit einem befreundeten, hochrangigen Offizier in Afghanistan telefoniert, meint er. Immer wieder erzählt er von seinen guten Kontakten, die er sich in den letzten Jahren aufgebaut hat. Dazu zählen Beziehungen zum Militär genauso, wie zu Milizen und Beamten. Nur so kann man die Hintergründe und Zusammenhänge darstellen, die eine gute Story ausmachen und bestenfalls die Wahrheit erkennen, erklärt er mir. Das Verhältnis zwischen Soldaten und Journalisten an der Front, so Kretz, war immer kameradschaftlich: „Man brauchte sich gegenseitig.“

Um der Wahrheit nahe zu kommen hat er viel riskiert, fast zu viel. Sechs Mal lag er verletzt in verschiedenen Krankenhäusern, doch sein Lebensmotto „a dead journalist is a bad journalist“ hat ihn am Leben gehalten. Ab und zu war es wirklich knapp, meinte Kretz, ganz besonders in Saigon (heute Ho-Chi-Minh-Stadt). Er nennt es seine zweite Geburt. Der Plan: mit einem Kollegen noch auf ein Bier in den „Tu Do Nightclub“ und dann zurück ins Hotel. Doch es kam anders. Mit dem Rücken zur Wand beobachteten sie die tanzenden amerikanischen Soldaten und lauschten der Musik aus dem Film Dr. Schiwago, als plötzlich eine Explosion im Bruchteil einer Sekunde den Ohrwurm beendete. Nur weil sie sich hinter einer Säule aufgehalten hatten, überlebten sie den Anschlag. Neben ihnen starben 37 Menschen. „Seit dem Tu-Do-Inferno begleitete mich in allen Gefahrenzonen die Gewissheit: Viel kann dir nicht mehr passieren.“ Dennoch war er immer voller Respekt, besonders bei der Begegnung mit Kindersoldaten, die durch ihre Tötungslaune nahezu unberechenbar waren. Nur mit Polaroid-Aufnahmen von ihnen war es ihm möglich, sie zu beschwichtigen –­ und er durfte bleiben.

Alles keine Gründe sich von seinem Vorhaben abbringen zu lassen. „Es passierte etwas, und ich bin hin geflogen“ und so machte er sich immer wieder aufs Neue auf den Weg und folgte Diktatoren, Terroristen und Soldaten um die Welt, besuchte Kriegsschauplätze, fotografierte Täter wie Opfer, dokumentierte Armut, Gewalt, Folter – und geriet immer wieder zwischen die Fronten. Er fotografierte das Grauen im Golfkrieg und die Massaker von Ruanda, Libyen und jene im Kongo während der Bürgerkriege, saß in engen Panzern und dreckigen Gräben, besuchte Machthaber und Aufständische und wurde Zeuge einer Hinrichtung. Warum er immer wieder als Fotograf in Krisengebiete reiste, kann Kretz nicht genau erklären. Vielleicht war es wie eine Droge, deren Erinnerungen ihn auch in sicherer Umgebung nicht los ließen. Jedes Mal, wenn er zurück nach Deutschland kam, hat er „die Jalousien runtergelassen“, das Grauen musste draußen bleiben. Reden über den Job war mit Familie und Freunden tabu. Ich frage Kretz, was es braucht, um das alles zu überstehen. Er antwortet: „Die richtige Mentalität – die hat man oder nicht. Lernen kann man so etwas einfach nicht.“


„Du musst clever und raffiniert sein. Vor allem aber: Selbst deine Gegner müssen Respekt vor dir haben.“ Perry Kretz

Dass Kretz mit einer solchen Mentalität ausgestattet ist, glaube ich sofort. Doch auch er hat manchmal Zweifel, ob er wirklich alles so unbeschadet überstanden hat. In seiner Biografie heißt es, dass 35 Jahre als Kriegsreporter doch Spuren hinterlassen haben. Ihm fehlt das Weiche, das Rücksichtsvolle und ein Panzer der Härte umschließe ihn noch heute. Zwar musste er wahrlich in viele menschliche Abgründe blicken, aber sein Mitgefühl hat er wohl kaum verloren. Das beweist Kretz unter anderem mit dem Engagement für Kim Phuc, die Frau, die nackt und schreiend nach einem Napalm-Angriff um ihr Leben rannte und dem Vietnam-Krieg ein Gesicht gab. Kretz besuchte sie immer wieder und brachte sie sogar in den 80er Jahren nach Deutschland, wo die damals Neunjährige drei Mal in einer Spezialklinik operiert wurde. Die beiden sind bis heute Freunde.

Ich blicke auf mein Handy, es ist 13:44 Uhr. Ich habe die Zeit völlig vergessen, so gebannt habe ich den Erzählungen meines Gegenübers gelauscht. Wir haben kaum etwas gegessen und begeben uns in Richtung Ausgang. Meine Kollegin hatte Recht: Dieser Mann hat etwas zu erzählen. Bevor sich unsere Wege im Dschungel des Gebäudes wieder verlieren, dreht sich Perry Kretz nochmal um und meint: „Das können wir gerne mal wiederholen. Ansonsten sehen wir uns im nächsten Krieg.“ Ich glaube einen solchen Humor muss man sich beibehalten, wenn man der Armut, dem Leid und den Verbrechen dieser Welt so oft ins Gesicht geblickt hat.